Erinnerungen an den Großen Knollen

Anekdoten vom „Knollerich"

Erzählt von Immo Steinberg aus Altenstadt

 

Im Jahre 1949 kam ich nach Herzberg, wo mein Vater ein zahntechnisches Laboratorium und eine keramische Werkstatt betrieb. Er war ein großer Wanderer und daher ging er mit Mutter und uns Kindern im Sommer des Jahres auf den großen Knollen. Wir erreichten den Berg über den Schafstall, den Ottoplatz und die Forststraße und bestiegen nach Eintreffen auf dem Gipfel den dort vorhandenen Aussichtsturm, um einen Blick in die Umgebung zuwerfen.

Der Gipfel des Großen Knollen, einer der höchsten Berge des Südharzes, war zu der Zeit mit Hochwald bestanden, welcher ebenso wie das nebenan befindliche Steinhaus in den letzten Kriegstagen von Jagdbombern der Alliierten, vermutlich mit Bordwaffen, angegriffen worden war. Das Haus war scheinbar abgebrannt, der Aussichtsturm wies eine Menge Einschüsse auf und der ehemals hohe Wald bestand nur noch aus zerschossenen, astlosen Baumresten. Im Osten, Richtung Brocken und Walkenried, zeigte sich die damals noch durchlässige Grenze zur sowjetisch besetzten Zone Deutschlands, welche Mutter und wir drei Kinder im Frühjahr des Jahres überquert hatten. Auf den Grundmauern des abgebrannten Hauses war eine hölzerne Hütte errichtet worden, welche im Inneren einen kleinen Gastraum aufwies, in einem Nebengelass, welches wohl auch als Küche diente, wohnte ein älterer Mann, der uns freundlich begrüßte. Da wir unsere Verpflegung mitgebracht hatten, kann ich mich nicht mehr daran erinnern, ob wir seine Gastfreundschaft in Anspruch nahmen, das jedenfalls war nach meiner Erinnerung mein erster Kontakt mit dem " Knollerich ". Ich bin in den späteren Jahren oft auf dem Großen Knollen gewesen und haben den Knollerich ganz gut kennen gelernt. Er stammte nach seinen eigenen Erzählungen aus der Gegend von Magdeburg, hatte auch wohl eine Tochter, die in England lebte und die er gelegentlich besuchte. Dann hing an der Tür seiner Hütte ein Schild mit der Aufschrift " Bin gleich zurück ", auch wenn er manchmal länger als eine Woche unterwegs war. In Herzberg war er gut bekannt, weil er regelmäßig zwei Mal wöchentlich mit seinem Rucksack zum Einkaufen kam, natürlich zu Fuß, denn Autos gab es damals noch nicht in größerer Zahl und waren dem Normalbürger nahezu unerschwinglich.

Die Begebenheit, von der ich nun berichten will, ereignete sich zu Anfang der 50 er Jahre. Der Knollerich war zu einer Institution geworden und galt als Original, das sich gelegentlich einen Spaß mit seinen Gästen erlaubte. Meine Freundin aus Kindertagen, inzwischen seit vielen Jahren meine Ehefrau, forderte mich eines Tages um die Weihnachtszeit auf, mit ihr auf den Knollen zu wandern. Es war ein recht grauer Sonntag und wir machten uns gegen Mittag, warm verpackt, auf den Weg über den Schafstall und den Ottoplatz, um den Knollen zu ersteigen. Es lag etwas Schnee und es war kalt. Als Marschverpflegung besaßen wir jeder eine Tüte mit Klümpchen aus Zucker, ihres mit Himbeer-, meines mit Waldmeister­geschmack. Am Ottoplatz war der Schnee schon knietief und nachdem wir, schon bei hereinbrechender Dämmerung, die Forststraße erreicht hatten und den steilen letzten Anstieg in Angriff nahmen, erwies er sich bereits als hüfttief, sodass wir nur unter Anstrengung den Gipfel erklimmen konnten. Welch eine Freude, aus dem Fenster der Hütte schimmerte Licht. Ich meine, dass im Gastraum eine Petroleumlampe brannte, und der Hüttenwirt begrüßte uns als einzige Gäste des Tages. Auf unsere Bitte um eine warme Mahlzeit, damals eine Kostbarkeit angesichts der geringen Vergütung für Lehrlinge, bot uns der Knollerich eine Erbsensuppe mit Wurst an, seine Spezialität. Nach einiger Zeit kam er dann mit zwei Nachttöpfen an, in welchen er uns unsere Suppe mit Wurst servierte. Ich wusste aus dass er gelegentlich solche Späße mit seinen Gästen trieb und war daher nicht verwundert, meine liebe Mitwanderin schluckte jedoch erst mal trocken, bevor sie sich zum Genuss der ausgezeichneten Suppe entschloss, nachdem ich beherzt mit dem ersten Löffel bewiesen hatte, dass das Service keine fremden Inhalte hatte. Unser auch heute noch ausgefochtener, unentschiedener Meinungsstreit geht darum, ob die Töpfe aus Porzellan oder Emaille gewesen sind, einig sind wir uns darin, dass sie zwei Henkel hatten und offensichtlich nicht für ihren eigentlichen Bestimmungszweck benutzt worden waren. Der Knollerich war sichtlich enttäuscht, dass er mit seiner Fopperei keinen großen Erfolg gehabt hatte, aber nach Eintrag ins Gästebuch machten wir uns dann gestärkt auf den Heimweg.

 

Die zweite Begebenheit, von der ich hier berichten möchte, beruht auf Hörensagen. Ende der 50- er Jahre weilte der Ministerpräsident von Niedersachsen, Hinrich Kopf, in Bad Lauterberg. Er äußerte den Wunsch, den Großen Knollen zu besuchen, worauf er bis zur Forststraße unterhalb des Gipfels mit dem Auto gefahren wurde. Den letzten Aufstieg machte er zu Fuß und erreichte den Gipfel, begleitet von einem Beamten seiner Umgebung. Dort angekommen, bestieg er nach Zahlung des obligatorischen Obolus den Aussichtsturm, der inzwischen restauriert und ohne Einschusslöcher war. Danach betrat er die Gaststätte und wurde dort vom Knollerich begrüßt. Er bestellte die allseits bekannte Erbsensuppe mit Bockwurst, die ihm prompt im Nachttopf serviert wurde, und bat danach den Knollerich, er möge ihm doch eine Verbindung nach Hannover herstellen. Es ist nicht bekannt, ob der Knollerich den Ministerpräsidenten erkannt hat, jedenfalls verschwand er in seiner Küche, erschien kurz darauf mit einer Stabtaschenlampe in der Hand wieder und fragte, ob der Herr mit dem Morsealphabet vertraut sei, in welchem Falle er ihn bäte, den Turm wieder zu ersteigen,( ohne erneute Bezahlung,) um sich den Pfeil auf der Brüstung zu suchen, welcher nach Hannover zeigte. In dieser Richtung solle er doch bitte dreimal kurz, dreimal lang; dreimal kurz (SOS) so lange blinken, bis aus Hannover Antwort käme: Dann könnte er seine Botschaft nach Hannover morsen.

Der Ministerpräsident war darob sehr erstaunt, dass es auf dem Berg kein Telefon gab und meinte, wenn er das nächste Mal auf den Großen Knollen käme, hätte der Wirt ein Telefon. Die Antwort des Knollerich soll gewesen sein: " Wenn Sie mir ein Telefon verschaffen können, dann dürfen Sie mich den Kaiser von China nennen. " Einige Zeit später weilte Hinrich Kopf wieder in der Gegend und begehrte auf den Knollen zu fahren, welchem Wunsch natürlich gerne entsprochen wurde. Nach dem obligatorischen Besuch auf dem Aussichtsturm und beim Essen in der bescheidenen Gaststube begehrte er nun vom Kaiser von China erneut ein Gespräch nach Hannover, worauf der Knollerich wieder mit der Taschenlampe ankam und meinte, der Kaiser von China sei er immer noch nicht, aber er kenne ja das Verfahren und möge sich bedienen.

Der Ministerpräsident soll einigermaßen erbost darüber gewesen sein, dass seiner Anordnung, auf den großen Knollen eine Telefonleitung zu legen, nicht Folge geleistet worden war und versprach nun erneut, dass der Knollerich bald sein Telefon haben sollte. Es ging das Gerücht, dass die Versetzung eines Försters in der Umgebung mit dessen Weigerung zusammen gehangen habe, eine für die Telefonleitung erforderliche Schneise durch den Wald schlagen zu lassen. Auf jeden Fall hat die Wirtschaft auf dem Großen Knollen heute Telefon, und wenn die Geschichte nicht wahr sein sollte, so ist sie zumindest gut erfunden und würde zum Knollerich, so wie wir ihn kannten, gut passen.

Dass dieses Original im Winter allein gestorben ist und von einem Wanderer tot in seiner Hütte gefunden wurde, passt zu ihm und ist nach unsrer Meinung ein seiner Originalität würdiger Abgang.Wir kommen jedes Jahr (noch) einige Male nach Herzberg, um die Gräber unserer Eltern zu besuchen, - meist auf der Durchreise,- und bei jedem Aufenthalt, der länger als eine Nacht dauert, wandern wir immer auf den Knollen, wo wir unserer Erlebnisse mit dem Knollerich gedenken, dessen Namen wir erst in diesem Jahr erfahren haben. Er hieß Fritz Goericke, Ehre seinem Andenken!